Mitte August erschütterte ein Unglück viele Menschen weit über die Grenzen Italiens hinaus. Ihr habt bestimmt auch davon gehört: Die Morandi-Brücke stürzte ein, zahlreiche Menschen verloren ihr Leben oder wurden verletzt.
Was bleibt, ist die Frage, wie es dazu kommen konnte. Ein Problem in der Statik ist die Ursache – so viel scheint festzustehen. Offenbar wurde das Bauwerk nicht ausreichend geprüft, sondern nur oberflächlich betrachtet.
Dass der prüfende Blick oft nicht bis in die Tiefe reicht, dieses Phänomen betrifft leider nicht nur Bauwerke …
Den Bedarf im Blick
Die für die Wartung der Brücke Zuständigen hatten offenbar nicht das Wesentliche im Blick. Mit Machtgerangel und Budgetdiskussionen beschäftigt, investierten die Verantwortlichen nicht genügend Geld in die Sanierung. Sie haben das Notwendige aus den Augen verloren, den Bedarf.
Sinnbildlich steht die bröckelnde Statik der Morandi-Brücke aus meiner Sicht für unsere ganze Gesellschaft. Denn auch dort ist die Statik weit entfernt von der Stabilität, die wünschenswert wäre. Das, worauf wir bauen – das Fundament unserer Gesellschaft – wackelt.
Was ich damit meine? Ich möchte es euch am Beispiel der Politik erläutern: Die Politiker gehen so viele Kompromisse ein, bis von der ursprünglichen Idee nicht viel übrig ist. Die Entscheidungen, die sie treffen, sind dann letztendlich sehr weit von dem entfernt, was wir in unserer Gesellschaft wirklich brauchen, wo unser Bedarf liegt.
Das Streben nach Macht
Na klar: Demokratie lebt von Kompromissen. Aber nicht, wenn dabei lediglich um Macht gestritten wird. Die Statik unserer Gesellschaft ist hingegen viel zu selten Gegenstand der Diskussionen. Um auf ein stabiles Fundament zu bauen, muss unsere Gesellschaft sich fragen, was sie ausmacht. Was ist unsere Kultur? Und wie können wir sie stärken?
Aber wer ist diese Gesellschaft und wer sind die Statiker, die sich darum kümmern sollten, dass sie stabil bleibt? Ja klar, die Politiker stehen natürlich in der Verantwortung, aber: Die Gesellschaft, das sind wir alle. Und so ist meiner Meinung nach jeder einzelne dafür zuständig, ganz genau hinzuschauen: Wo bröckelt es in der Statik? Bilden sich Risse? Gibt es Optionen die Risse wieder kitten? Wenn ja wie oder sollte die gesamte Statik neu gerechnet werden? Wegen Einsturzgefahr?
Mit der Lupe ausgestattet
Als Statiker für unsere Gesellschaft ist die Lupe unser Handwerkzeug. So könnt ihr und ich ganz genau hinschauen. Und zwar möglichst, bevor ein Unglück passiert.
Denn leider sind viele Menschen so gestrickt, dass erst etwas Schreckliches passieren muss, bevor sie genau hinsehen. Sie sind Schmerzlerner. Erst wenn die Tagesordnung durchbrochen ist, kann niemand mehr wegschauen.
Nach dem Brückeneinsturz in Genua wurde die Statik vieler Brücken genau geprüft. Für unsere Gesellschaft wünsche ich mir, dass die vielen Statiker unter uns – dass ihr und ich – unter die Oberfläche schauen, bevor es zu spät ist.
Wenn ihr an die Geschichte der Menschheit denkt, dann wisst ihr so gut wie ich: Die Spaltung einer Gesellschaft in die „Guten“ und die „Bösen“ hat noch nie ein harmonisches Ende genommen. Und fast immer haben sich alle Beteiligten im Nachhinein gefragt, wie es denn überhaupt so weit kommen konnte, dass die Spaltung solche Ausmaße angenommen hat.
Wenn ich aktuell unsere Gesellschaft mit dem Blick eines Forschers, also so quasi unter die Lupe nehme, frage ich besorgt: Sind wir nicht wieder auf dem Weg dahin?
Alle Aufmerksamkeit für die Honigfalle
Was ich beobachte, ist nämlich, dass beim Thema Impfung ein tiefer Riss quer durch die kleinsten Einheiten unserer Gesellschaft geht – so wie bei dem Paar aus meiner nächsten Umgebung: Er ist Arzt und Gegner der Impfung, sie ist Apothekerin und glühende Befürworterin. Und was den beiden gleichermaßen komplett aus dem Blick geraten ist, sind ihre Gemeinsamkeiten. Dabei haben die beiden jede Menge Dinge, die sie verbinden, große und kleine.
Diese Spaltung ist mit die gefährlichste Honigfalle unserer Zeit: Sie lenkt in ihrer Macht alle Aufmerksamkeit auf sich, es bleibt kein Bewusstsein mehr für die vielen, vielen Gemeinsamkeiten, die die Menschen verbinden.
Dieser Verführung wirke ich entgegen, wo immer ich kann. Und ich merke, wie gut das den Menschen tut.
Die Überraschung im Konzert
Das funktioniert schon bei ganz unscheinbaren Begebenheiten: Wenn ich zum Beispiel am See spazieren gehe und Menschen an der gleichen Stelle stehen bleiben wie ich, dann halte ich inne und schaffe ihnen den Raum für die Verbundenheit.
Oder wenn ich jemanden bei einen Konzert treffe, von dem ich nie vermutet hätte, dass er diese Musik auch mag – und er nicht von mir: Das ist wow, weil wir dann uns gegenseitig überraschend in unserer Schönheit erkennen.
Ganz toll lässt sich das erleben bei uns im Städtli, wenn sich beim legendären Töfflibuabatreff Jung und Alt am See treffen.
Die Verbundenheit am See
Diese Veranstaltung bringt die unterschiedlichsten Menschen zusammen: den Unternehmer mit dem Philosophen und den Richter und dem jungen Auszubildenden. Alle zeigen stolz ihre alten Töffli (Mofa in deutsch), das sie teilweise vom Opa aus dem Schuppen geholt haben. Die Männer stehen fachsimpelnd um ihre Gefährte herum – alles andere ist in dem Moment egal. Diese Verbundenheit unter Menschen, die sonst nie miteinander reden würden, ist großartig.
Dieses Jahr kamen ganz besonders viele Menschen zu diesem Treffen: Der Wunsch nach Gemeinsamkeiten ist groß. Und es ist mir eine Freude, das zu unterstützen. Genauso wie diese zauberhafte Idee der Schwatzbänkli.
Eine Bank für die Polarität
Solche Bänke stehen beispielsweise in Chur und laden dazu ein, sich zu setzen und gleichzeitig zu sagen: „Ich bin bereit, dass sich jemand zu mir setzt.“ Diese Schwatzbänkli schaffen eine Verbindung zwischen Menschen. Sie stehen damit für das Gegenteil von Dualität, von dem Gut-Böse-Schema, von Spaltung: Wer sich auf eine dieser Bänke setzt, öffnet den Raum für Polarität, für die Vielfalt, für das Stärkende in der Gemeinsamkeit.
Das ist es, worauf wir unseren Fokus setzen sollten. Damit wir uns eben nicht von der Honigfalle der Spaltung zu etwas verführen lassen, was uns als Gesellschaft spaltet und schwächt.
Menschen werden seit Hunderten von Jahren so konditioniert: Wo es ein Opfer gibt, da gibt es auch einen Täter, und wo es einen Täter gibt, da gibt es auch einen Retter. Sämtliche Blockbuster sind nach diesem Muster gestrickt, und es funktioniert. Dieses Dramadreieck ist ein sich selbst erhaltendes System. Viele fragen sich: „Warum passiert das immer mir?“ Wenn man an die Illusion des Dramadreiecks glaubt, dann wird dieses auch Teil der eigenen Realität. Und da es ein selbsterhaltendes System ist, so wie auch die eigene Realität ein selbsterhaltendes System ist, muss es sich immer wiederholen, um zu bestätigen, dass es so ist. Solange bis man sich darüber klar wird, dass es eine Illusion ist.
Wahrheit: relativ oder absolut?
Ich aber bin an der Wahrheit interessiert und schaue gern mal hinter den allgegenwärtigen Schleier der Amnesie. Nehmen wir die relative Wahrheit und die absolute Wahrheit anhand des Sonnenuntergangs. Die Sonne geht weder auf noch unter. Lediglich der Standort des irdischen Beobachters dreht sich als Folge der Erdrotation der Sonne entgegen. Wir wissen das und gleichzeitig hat sich die Menschheit auf eine relative Wahrheit geeinigt und erfreut sich in Zitaten, Postkarten und gefühlten Millionen von Selfies daran.
Lasst euch das nicht als wahr verkaufen
Die absolute Wahrheit ist immer da. Eine Wahrheit ist nicht mal mehr und mal weniger wahr. Wahrheit ist Wahrheit. Das andere sind subjektive Realitäten. Und die ändern sich beim Menschen. Zum Beispiel hat jemand eine klare Meinung und vertritt diese felsenfest. Dann trifft man diesen Menschen zehn Jahre später wieder, und inzwischen hat eine neue - durch neue Erfahrungen, Erkenntnisse und Impulse gewonnene – Realität die alte Realität revidiert. Es ist ein neues Bild, eine neue Realität, aber auch eine neue Illusion. Das hat nichts mit Wahrheit zu tun, wird aber gerne als solche definiert.
Wozu dient das?
Einer meiner Professoren der kognitiven Neurowissenschaften hat jeweils während des Seminars auf die Uhr geschaut und gesagt: „Jetzt, wo ich gerade hier stehe, ist der Stand des aktuellen Irrtums in der Wissenschaft folgender...“. Es kann ja jederzeit jemand irgendwo etwas herausfinden, das die ganze These widerlegt. Und das ist etwas, was in meiner Wahrnehmung nur ganz wenige Menschen für möglich halten: Dass man die Dinge auch anders betrachten könnte. Die Frage, warum Dinge passieren, ist zwar interessant, aber gleichzeitig sehr gefährlich, denn sie zielt auf das Schuldprinzip ab. Deshalb finde ich die Frage „wozu dient es?“ viel spannender. Mit dieser Frage schaue ich auf die Geschehnisse, egal was passiert auf der Welt.
„Ich arbeite hart, damit ich in ein paar Jahren erfolgreich bin.“ „Wenn ich meinen Traummann erst gefunden habe, bin ich bestimmt total glücklich.“ „Du musst erst etwas leisten, dann kannst du davon zehren.“
Alle diese Sätze, die euch so oder so ähnlich bestimmt bekannt vorkommen, haben eins gemeinsam: Sie glorifizieren ein Ereignis oder eine Situation, die in der Zukunft liegt. Das begegnet mir ganz häufig: Viele Menschen arbeiten in der Gegenwart auf etwas hin, das erst in der Zukunft stattfindet. Dabei vergessen sie doch aber das Hier und Jetzt. Ist es denn nicht besonders wichtig, heute glücklich zu sein?
Keine Verantwortung, keine Schuld
Aber eigentlich ist das ja ganz bequem: Wer immer vom Erfolg in der Zukunft spricht, kann in der Gegenwart nicht scheitern. Die Ausreden, warum heute dies oder jenes nicht so klappt, sind bei dieser Zukunftsausrichtung schnell gefunden. Ist ja alles nicht so wichtig, Hauptsache in ein paar Jahren läuft’s rund …
Wer so denkt, gibt jegliche Verantwortung für die Gegenwart ab. Dabei ist es doch genau umgekehrt: Ihr seid dafür verantwortlich, wie ihr in diesem Moment handelt! Und genau jetzt habt ihr die Möglichkeit, zu gestalten. Natürlich kann ich nicht alles beeinflussen, was um mich herum passiert. Manchmal haben die Beschlüsse anderer Auswirkungen auf mein Leben.
Die Frage ist doch, lass ich mich davon beeinflussen? Gebe ich all dem, was da manchmal so unachtsam getan, gesagt oder nicht getan und nicht gesagt wird, die Macht?
Nein, ich entscheide! An jedem neuen Tag lege ich bewusst fest, wie ich diesem begegne. Meine liebste Variante: voller Freude, mit viel Neugier im Gepäck und offen für alles, was mich erwartet.
Wetterunabhängig durchstarten
So liegt es nicht am Tag – also an irgendwelchen Zufällen, dem Wetter oder mehr oder weniger belanglosen Ereignissen – wie ich mich fühle, meine Einstellung bestimmt den Tag! Schliesslich will ich nicht irgendwann erfolgreich sein, sondern heute. Und zeigt nicht genau diese Freude, mit der ihr durch den Tag geht, dass ihr Erfolg habt? Dass euer Tun euch bereichert? Dass ihr euren Weg geht?
Diese Freude hilft mir auch dabei, das Leben nicht allzu ernst zu nehmen. Da halte ich es wie die frühere Organisatorin des Wiener Opernballs, Lotte Tobisch-Labotýn, die einmal sagte, man müsse diese Veranstaltung ernsthaft organisieren, dürfe sie aber nicht allzu ernst nehmen. Ich finde nämlich: Amüsement gehört genauso dazu. Und davon bietet das Leben einiges – ihr müsst es nur erkennen und dann zulassen. Deswegen lache ich unwahrscheinlich gerne – auch mal über mich selbst.
Heute geschlossene Gesellschaft!
Natürlich bremst mich manchmal auch eine Grippewelle aus oder ich habe einfach keine Lust, anderen Menschen zu begegnen. Es gibt Tage, an denen fühle ich mich einfach nicht danach, der Welt die Tür zu öffnen. Aber auch in dieser Lage übernehme ich Verantwortung für die Situation:
Heute geschlossene Gesellschaft! Und eingeladen bin nur ich :-). Es fühlt sich immer wieder gut an, einfach mal sein eigener VIP zu sein. Ich bleibe Zuhause und lasse es mir so richtig gut gehen. Ich kümmere mich um mein Wohl. Danach bin ich auch wieder bereit für das wunderbare Leben ausserhalb meiner Wohnung.
Jeder ist selbst für sein Glück und seinen Erfolg zuständig, das liegt nicht in der Verantwortung eines anderen. Probiert’ s doch mal aus: Öffnet morgen die Tür, atmet tief ein, macht einen bewussten Schritt hinaus in die Welt und erfreut euch an einem wunderschönen neuen Tag.
Et voilà, ihr steht mitten im Leben und die Zukunft passiert genau JETZT!
Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.